recalm: Antischall als Schutz vor Baumaschinenlärm

Zwischen massiven Eisenstreben, rauen Betonklötzen und tonnenschweren Baumaschinen ist eine Baustelle vor allem eines – sie ist unfassbar laut. Wer in der Bauindustrie tätig ist, sieht sich tagtäglich ohrenbetäubenden Lärmquellen gegenüber. Beim Einsatz leistungsstarker Hydraulikbagger, Rüttelplatten, Walzen und Radlader sorgt das für extremen Krach, der auf Dauer ernsthafte gesundheitliche Schäden mit sich bringt. Der permanente Maschinenlärm kann im schlimmsten Fall zu einer Lärmschwerhörigkeit führen, die aufgrund der Schädigungen im Nervensystem als unheilbar gilt. Grund genug also, um dieses Thema ernst zu nehmen. Und genau das hat die recalm GmbH getan: Das Unternehmen mit Sitz in Hamburg hat eine innovative Active-Noise-Cancelling-Lösung (ANC) mit Namen „ANCOR“ entwickelt, die direkt in einer geschlossenen Fahrerkabine nutzbar ist und dort die gefährlichen Lärm-Schallwellen mit Gegenschall bekämpft.

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Von: Dan Windhorst

Eine auf Schallwellen basierte Lärmunterdrückung, die sich in den Fahrersitz einer Baumaschine integrieren lässt: Die Idee für ein solches System kam Marc von Elling, Mitgründer und Technischer Geschäftsführer der recalm GmbH, ausgerechnet am Hamburger Fischmarkt mitten in Altona – einem Stadtteil, bei dem Lärm praktisch schon zum Wohninventar dazugehört. Er wollte einen Weg finden, um Lärm auszuschalten, ohne dafür einen umständlichen Hörschutz aufsetzen zu müssen. Das führte 2017 zur Gründung der recalm GmbH, an der neben Marc von Elling auch Martin Günther (Technischer Geschäftsführer, Lukas Henkel (Kaufmännischer Geschäftsführer) und Ralf Ressel (Mentor) beteiligt waren.

Neben der für Hamburg typischen Macher-Mentalität setzte das Team in den darauffolgenden Jahren vor allem auf dessen Erfindergeist: Entwickelt wurde ein Algorithmus, der lärmenden Schall in ein gegenphasiges Schallsignal umwandelt und so den Lärmpegel aktiv reduzieren soll. Das Besondere hierbei ist die sogenannte Freifeld-Anwendung und damit die Möglichkeit, Lärmschutz nicht nur mittels Kopfhörer direkt am Ohr, sondern innerhalb der Fahrerkabine zu betreiben.

Ausgeklügeltes System

Um einen solchen aktiven Lärmschutz zu betreiben, benötigt die ANC-Lösung »ANCOR« (Active Noise Cancelling Offered by Recalm) mehrere Mikrofone, welche die vorhandenen Umgebungsgeräusche aufnehmen. Mittels Mikroprozessor wird daraus dann ein Schallsignal mit entgegengesetzter Polarität entwickelt. Kurz gesagt: Hier wird Feuer mit Feuer bekämpft – genauer genommen, Schallwelle mit Schallwelle. Das daraus resultierende Gegengeräusch wird dann mithilfe mehrerer Lautsprecher freigesetzt, die in Ohrnähe des Fahrers direkt im Sitz verbaut sind. Auf diese Weise, so recalm, lässt sich der Lärm in der Fahrerkabine überlagern und zum großen Teil auslöschen. Ein wichtiger Nebeneffekt dieses Systems ist, dass höhere Frequenzen davon unberührt bleiben: Beim unterdrückten Baumaschinenlärm handelt es sich um niederfrequenten Schall, weshalb der Fahrer auch weiterhin akustische Signale wahrnehmen kann und nicht in seiner Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt wird.

Idee mit Zukunft

Mit »ANCOR« hat recalm eine Lösung entwickelt, die sich nach Ansicht von Lukas Henkel (siehe Interview) vielseitig einsetzen lässt. Nutzbar ist das System überall dort, wo eine geschlossene Kabine samt Sitz mit normal hoher Kopfstütze samt Rückenlehne vorhanden ist.

Darüber hinaus lässt sich die Click-on-Lösung auch nachrüsten. Im Bereich der Bau- und Landmaschinen bietet sich für recalm daher ein beachtliches Potenzial. Aber das Unternehmen denkt eigenen Angaben zufolge bereits einige Schritte weiter: Anwendung könnte das System auch in Autos, Bussen, Lkw oder Flugzeugen finden.


Stand der Dinge

Seit dem Hamburger Fischmarkt und der ersten Idee zu einer solchen Lösung ist viel passiert. Das recalm-Team hatte 2018 vielversprechende Prototypen entwickelt, die bereits 2019 auf der bauma in München begutachtet werden durften. Darüber hinaus konnte das Unternehmen mit seiner Technologie wichtige Auszeichnungen wie den Deutschen Arbeitsschutzpreis 2019 auf der A+A in Düsseldorf sowie die Systems and Components Trophy im Rahmen der Agritechnica in Hannover gewinnen. Stattgefunden haben darüber hinaus zahlreiche Langzeittests, um das System auch unter realen Bedingungen auf der Baustelle einem Härtetest zu unterziehen. Die Resonanz, so Lukas Henkel, sei dabei besonders positiv. Wann genau recalm mit seiner innovativen Lärmschutz-Lösung an den Start geht und was die besonderen Raffinessen dieses Systems sind, erklärt der Mitgründer im nachfolgenden Interview. J

INTERVIEW

»Lärm ist ein großes Problem und ANC ein willkommener Lösungsansatz«

bauSICHERHEIT: Herr Henkel, wer sich regelmäßig zu starkem Lärm aussetzt, riskiert auf Dauer eine Lärmschwerhörigkeit und damit eine Erkrankung, die nicht mehr zu heilen ist. Gerade auf der Baustelle, wo schwere Baumaschinen teils ohrenbetäubenden Lärm produzieren, nimmt Lärmschutz daher eine tragende Rolle ein. Mit der Entwicklung einer ANC-Lösung (Active-Noise-Cancelling) entwickelt recalm ein innovatives und neues System, das störende Geräusche auf Knopfdruck reduzieren soll. Wie kam es zu dieser Idee?
Lukas Henkel: Ihren Ursprung hat die Idee am Hamburger Fischmarkt. Auch dort ist es laut, weshalb mein dort wohnhafter Mitgründer Herr von Elling bei geöffnetem Fenster keine Ruhe fand. Nach Rücksprache mit Personen aus der Baubranche war schnell klar, dass Arbeitnehmer, die unter Lärm arbeiten, weitaus gefährlicheren Lärmpegeln ausgesetzt sind als unsereins in den eigenen vier Wänden. Nachdem wir mit den verschiedensten Stakeholdern aus der Branche gesprochen haben, war klar: Lärm ist ein großes Problem und ANC wäre ein willkommener Lösungsansatz.

bauSICHERHEIT: Das System basiert auf dem Prinzip von Active-Noise-Cancelling (ANC): Statt Geräusche einfach nur zu dämpfen, nutzen Sie Antischall, um den Lärm aktiv zu reduzieren. Wie muss sich der Anwender diesen Vorgang vorstellen?
Lukas Henkel: Bei der Reduktion von Lärm unterscheidet man üblicherweise zwischen passiver und aktiver Dämpfung. Passive Dämpfung erfolgt mittels Dämmmaterialien. Diese Art von Dämpfung eignet sich gut für hochfrequenten Lärm. Aktive Dämpfung basiert auf Signalverarbeitung, also Software.
Diese Art der Dämpfung funktioniert besonders gut bei tieffrequentem Lärm. Ein Mikrofon nimmt den Lärm einer primären Schallquelle (z. B. Motor) auf. Mithilfe der Signalverarbeitung wird ein Signal mit entgegengesetzter Polarität erzeugt. Ein Lautsprecher dient als sekundäre Quelle und gibt den Gegenschall aus. Durch destruktive Interferenz wird das Störsignal ausgelöscht. Unser System arbeitet dabei adaptiv und versucht je Betriebsszenario die bestmögliche Reduktion zu erzielen. Der wahrnehmbare Effekt ist also abhängig von der jeweiligen Lärmcharakteristik je Situation. Selbst wenn mal kein spürbarer Effekt erzielt würde, reduzieren wir trotzdem Lärm und schützen das Ohr vor unnötigen Frequenzen. Grund hierfür ist, dass das menschliche Gehör zum einen einer variablen Empfindlichkeit unterliegt und zum anderen erst bei einem Unterschied von 3 dB(A) eine spürbare Veränderung wahrnimmt. Nur ein gesundes Gehör kann bei guten Bedingungen im direkten Vergleich Pegel von 1 dB(A) unterscheiden. Das mindert den Mehrwert einer nicht direkt spürbaren Reduktion unterhalb von 3 dB(A) aber keineswegs. Bei Lärm gilt: Weniger ist immer mehr. Das Ergebnis ist, dass das dumpfe, bassähnliche Wummern reduziert wird, während das Feedback vom Motor, Warnsignale, Radio und Sprache unberührt bleiben oder sogar besser hörbar werden.

bauSICHERHEIT: Ihre ANC-Lösung wirkt im Vergleich zum großen Nutzen erstaunlich kompakt: Wie sieht es mit der Kompatibilität hinsichtlich verschiedener Baumaschinentypen und -hersteller aus? Ließe sich prinzipiell jede Baumaschine damit aus- bzw. nachrüsten?
Lukas Henkel: Grundsätzlich haben wir unser Produkt »ANCOR« (Active-Noise-Cancelling Offered by Recalm) so entwickelt, dass es auch nachrüstbar ist. Um das Produkt installieren zu können, ist ein normal langer Sitzrücken samt Kopfstützte nötig. »ANCOR« wird von hinten an die Streben der Kopfstütze geschraubt und umfasst somit die Kopfstütze. Zudem braucht es eine Kabine – für offene Fahrerstände, wie etwa bei Straßenfertigern, ist das System nicht geeignet. Sind Kopfstütze und Kabine gegeben, lässt sich das Produkt theoretisch auf jeder Baumaschine nachrüsten bzw. installieren.

bauSICHERHEIT: Eine Frage, die sich speziell erfahrene Baumaschinen-Anwender in diesem Zusammenhang stellen: Ihre ANC-Lösung soll störende Geräusche reduzieren, gilt das dann nicht auch für andere Geräuschquellen wie akustische Warnsignale oder Zurufe von Arbeitskollegen, etwa in Gefahrensituationen?
Lukas Henkel: Wie bereits angedeutet, sorgt unser System für die Reduktion von tieffrequenten Anteilen im Spektrum. Gewünschte und benötigte Geräusche reduzieren wir nicht, sondern machen sie durch das Reduzieren des tiefen Wummerns unter Umständen sogar besser hörbar.

bauSICHERHEIT: Im vergangenen Jahr hat recalm bereits wichtige Auszeichnungen für seine Innovation erhalten – unter anderem den Deutschen Arbeitsschutzpreis 2019 auf der A+A in Düsseldorf sowie die Systems and Components Trophy, welche auf der Agritechnica in Hannover verliehen wurde. Was lässt sich zur bisherigen Resonanz auf das System sagen?
Lukas Henkel: Beide Preise sind repräsentativ für unsere Mission: Wir wollen ein innovatives Produkt im Markt etablieren, das die Lebensqualität der Fahrer erhöht, indem die Sicherheit und der Komfort am Fahrerarbeitsplatz im Fokus liegen. Viel wichtiger als etwaige Preise ist aber das Feedback aus dem Markt bzw. den Anwendern. Hier ist die Resonanz bisher sehr gut. Wir sind bereits mit einigen OEMs in Projekten und Testphasen und auch die Bauunternehmen haben längst verstanden, dass Arbeitsschutz und Komfort am Arbeitsplatz nicht mehr wegzudenken sind – besonders vor dem Hintergrund, dass der Fachkräftemangel den Konkurrenzdruck am Arbeitsmarkt erhöht. Auch bei den Bauunternehmen gibt es besonders innovative Tester, die vorpreschen und mit uns zusammenarbeiten.

bauSICHERHEIT: Die recalm GmbH wurde 2017 von Marc von Elling, Martin Günther, Ralf Ressel und Ihnen gegründet. Seither ist viel passiert: Neben der Entwicklung erster Prototypen sowie der Weiterentwicklung der Technologie arbeitet recalm nun mit Hochdruck an der Marktreife: Ist bereits abzusehen, wann die Branche damit rechnen darf?
Lukas Henkel: Das stimmt, die Zeit ist schnell ins Land gezogen und wir haben jede Menge auf unserem bisherigen Weg lernen dürfen. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, im kommenden Jahr, also 2021, den Markteintritt zu schaffen und erste Maschinen auszurüsten.

bauSICHERHEIT: Das Jahr 2020 ist und bleibt von der Covid-19-Pandemie geprägt. Wichtige Schutzmaßnahmen und Einschränkungen seitens der Bundesregierung helfen, die Verbreitung des Virus einzudämmen, setzen aber gleichzeitig der Wirtschaft zu. Wie nimmt die recalm GmbH diese Ausnahmesituation wahr und sind die Auswirkungen von Corona auch bei Ihnen spürbar?
Lukas Henkel: Natürlich trifft uns die Pandemie an der ein oder anderen Stelle. Sei es bei Tests mit Kunden oder der Liefertreue von Entwicklungsaufträgen. Auch wir haben Mitte März das gesamte Team ins Homeoffice geschickt und vom heimischen Schreibtisch aus gearbeitet. Sicherlich macht die Situation mit jedem Menschen im Team was und es muss stellenweise besonders hingehört und umgedacht werden. Wir haben uns im engen Austausch miteinander zurück in den Arbeitsalltag getastet. Mittlerweile sind wir wieder mehr im Büro und auch bei Kunden im Feld. Vergangene Krisen haben aber zudem gezeigt, dass kleinere, innovative Unternehmen als Gewinner aus der schweren Zeit hervorgehen konnten. Bei aller vorhandener Demut haben wir die Ambition, gestärkt aus der Krise zu kommen und unsere Innovativität und Agilität zum Vorteil unserer Kunden einzubringen. Wir glauben, dass wir nicht abreißen lassen dürfen, wenn wir in Deutschland als Innovationstreiber im internationalen Vergleich oben mitspielen wollen. Daher wird die Zeit nach der Krise kommen, in der es schnell gehen muss, und dann werden wir da sein.

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