Mit einem einfachen Bauarbeiter-Helm ist es aus Sicht von MIPS meist nicht getan. Das schwedische Unternehmen hat mit seinem »Brain Protection System« (BPS) ein Hirnschutzsystem entwickelt, das sich weltweit in den Produkten vieler Helmhersteller wiederfindet. Das System basiert auf 20-jähriger Entwicklungsarbeit und soll als Erweiterung des Helmschutzes verstanden werden. Es befindet sich im Inneren des Helms – für gewöhnlich zwischen der Komfortpolsterung und dem EPS, einem hochwertigen Schaumstoff, der zur Energiereduzierung verwendet wird. Das MIPS »BPS« soll es dem Kopf ermöglichen, sich im Helm zu bewegen, wodurch gefährliche Drehbewegungen reduziert werden, die sich sonst auf das Gehirn übertragen würden.
»Die Wissenschaft hat gezeigt, dass unser Gehirn äußerst empfindlich auf die Drehkräfte reagiert. Bei einem schrägen Aufprall können eben diese Kräfte zu schweren Verletzungen führen«, sagte Peter Halldin, Technical-Chief-Officer bei MIPS, im Rahmen der virtuellen Tour, die vom Testzentrum in Stockholm live übertragen wurde. »Genau hier kommt unser ›BPS‹ zum Tragen: Es kann die Rotationsbewegung reduzieren und damit das Risiko einer Hirnschädigung verringern.« Bestätigt habe sich das mithilfe von mehr als 31 000 Tests, die sowohl von MIPS selbst als auch Dritten durchgeführt wurden.
Standard-Tests reichen nicht aus
Als Problem betrachtet MIPS jedoch die gängigen Standards sowie die damit einhergehenden Testverfahren. Einer aktuellen Studie zufolge, die in Zusammenarbeit mit der Expertin Karin Brolin, Ph. D., entstanden ist, lasse sich mit den heutigen Standards für Industrieschutzhelme (DIN EN 397) bei einem Bauhelm-Test kein realitätsnaher Unfall simulieren. Momentan umfasse die Prüfnorm nur einen linearen Aufprall: Dazu werde lediglich ein Gegenstand zentriert auf die Mitte des Helmes fallen gelassen, statt auch den seitlichen Aufprall zu berücksichtigen. Internationale Studien zeigen laut MIPS, dass rund 50 Prozent aller Hirnverletzungen durch Stürze aus der Höhe entstehen. Dabei sei es wahrscheinlich, dass der Kopf schräg auf den Boden aufpralle. Welchen Schutz ein Industrieschutzhelm dabei bieten könne, sei durch die aktuellen Test-Standards nicht ermittelbar.
Die Basis der Studie waren internationale Unfallstatistiken. Die wichtigsten Ergebnisse: Bauarbeiter seien besonders gefährdet für Kopfverletzungen. In Deutschland, so die Studie weiter, sei die Zahl der Hirnverletzungen in der Bauindustrie ungefähr doppelt so hoch im Vergleich zum gesamten Arbeitsmarkt – schwere sowie tödliche Hirnverletzungen würden in den meisten Fällen durch Stürze aus der Höhe auftreten.
Verletzungsrisiko auf der Baustelle
Auf der Baustelle finden sich unterschiedlichste Szenarien, bei denen die gefährlichen Rotationsbewegungen entstehen. Das kann bei schrägen Einwirkungen auf den Kopf auftreten, zum Beispiel beim Aufprall auf den Boden oder durch herabfallende Trümmer oder Werkzeuge. Dabei kann das Hirngewebe reißen. Verletzungen wie Gehirnerschütterungen, Blutungen zwischen Hirnhaut und Gehirn sowie Schädigungen von Nervenzellen im Gehirn können laut MIPS die Folge sein.
Trotz dieser bekannten Gefahr gibt es in Europa keinen Teststandard für Industrieschutzhelme, der die genannten Rotationsbewegungen berücksichtigt. Heutzutage setzt der Prüfingenieur den Helm lediglich auf eine Kopfform und lässt ein fünf kg schweres, rundes Metallobjekt sowie ein drei kg schweres, scharfkantiges Objekt aus einem Meter Höhe auf den Helm fallen. Ein schräger Aufprall oder ein Sturz aus der Höhe werden nicht simuliert. »Wir sollten kritisch hinterfragen, wie Teststandards heutzutage gestaltet werden, und sie an den aktuellen akademischen Wissensstand anpassen. Wichtig wäre es, Baustellenunfälle zu analysieren und die Standards künftig verstärkt auf Unfallstatistiken und wissenschaftlichen Erkenntnissen aufzubauen«, so Karin Brolin. »Wir müssen alles in unserer Macht Stehende dafür tun, Hirnverletzungen bei Arbeitsunfällen vorzubeugen. Ein erster wichtiger Schritt wäre, Industrieschutzhelme in Szenarien zu testen, die realitätsnahen Unfällen entsprechen. Dazu sollte man ein Element zum Prüfen der Rotationsbewegungen in die Tests aufnehmen. Diese Änderung des Prüfprotokolls würde die Realität besser abbilden«, ergänzt Max Strandwitz, CEO von MIPS.
Bei anderen Helmarten, wie etwa Ski-, Fahrrad- und Motorradhelmen, basiere der Helmtest schon heute auf Daten aus dem wirklichen Leben. Hier würden detaillierte Unfallberichte und -analysen zugrundeliegen – für Baustellenunfälle, so die Expertin, gäbe es diese kaum.
»Ein besserer Schutz ist notwendig«
Im Stockholmer Testlabor von MIPS wird bei allen Helmtests bereits ein schräger Aufprall aus der Höhe simuliert und mit einem Computermodell des menschlichen Kopfes analysiert. Zusammen mit dem Unternehmen untersuchten die Wissenschaftler nun, wie sich Rotationsbewegungen bei Baustellenunfällen reduzieren lassen und welche Auswirkungen das auf Hirnverletzungen haben könnte.
Dazu simulierten sie typische Arbeitsunfälle im Bausektor und nutzten das MIPS-Hirnschutzsystem, das die Rotationsbewegungen reduzieren kann. Ihre Auswertungen zeigen eigenen Angaben zufolge, dass Helme mit dem Hirnschutzsystem die auf das Gehirn wirkende Winkelgeschwindigkeit und Winkelbeschleunigung sowie die Belastung des Gehirns verringern. »Wir nutzen unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse, um die Notwendigkeit eines besseren Schutzes klarzustellen«, erläuterte Marcus Seyffarth, Head of Product Development bei MIPS, im Rahmen der virtuellen Führung, bei der ein genauer Blick auf die aktuellen Testverfahren gewährt wurde.
Spezielle Tests für mehr Sicherheit
Getestet werden dabei unterschiedliche Situationen von Einwirkungen auf den Kopf, um ein möglichst realitätsnahes Ergebnis aufzuzeigen, so auch ein Einschlag von hinten sowie von den Seiten oder oberhalb. Live gezeigt wurde beispielsweise der Aufprall des Kopfes auf einen beweglichen Untergrund, was den klassischen Fall in der Bewegung simulieren sollte. Zu Beginn wurde der am Helm angebrachte QR-Code eingescannt. Dieser liefert alle notwendigen Parameter wie Helm-Art, Herstellungsangaben und Größe. Anschließend wurde der Helm in Position gebracht, um die exakt richtige Distanz zwischen Helm und Kopf herzustellen. Der rund 4,2 kg schwere Dummy-Kopf schnellte daraufhin mit einer Fallgeschwindigkeit von ca. 10,6 m pro Sekunde zu Boden. Aufnahmen mit einer High-Speed-Kamera machten dabei die Betrachtung des Ablaufs möglich, um so die auftretenden Rotationsbewegungen genau analysieren zu können.
Anhand der Distanz von Nase zu Helmfront lässt sich beispielsweise gut erkennen, wie stark ein gewöhnlicher Schutzhelm beim Aufprall in Bewegung gerät und wie ein Helm mit integriertem »BPS« die Rotationen abmildert. Gerade auf der Baustelle begegnen Arbeiter immer wieder gefährlichen Arbeitssituationen, in denen ein Sturz- oder Stolperunfall ebenso wie die Gefahr durch herabfallende Gegenstände dramatische Folgen haben kann, wenn der Helm die Kräfte nicht effektiv abmildert. Genau deshalb investiert MIPS so viel Zeit, aber eben auch Aufwand in die Tests. Hier fließen auch die Erfahrungswerte aus zahlreichen anderen Bereichen in die Testverfahren sowie Entwicklungen mit ein. So nennt Marcus Seyffarth als Beispiel den American Football, ein Sport, bei dem die Athleten während der Spielzüge extrem starken Aufprallkräften ausgesetzt. Mithilfe speziell dafür entwickelter Tests werden diese Kräfte ermittelt und immer wieder neue Schutzlösungen ausprobiert.
Je nachdem, welche Art von Helm bei den Tests für typische Baustellen-Schutzhelmen geprüft wird, wird der Helm aus 2,2 bis 3,1 m Höhe auf einen mit Schleifpapier bedeckten Aufprallwinkel von 45 Grad fallen gelassen. Es werden drei verschiedene Arten von Aufprallpunkten sowie Helme in allen Größen getestet. Die Daten werden mit neun Beschleunigungsmessern in einem Hybrid-III-Crashtest-Dummy-Kopf gesammelt und mit einem Computermodell, dem sogenannten Finite-Elemente-Modell, analysiert. Dasselbe Helmmodell wird mit und ohne MIPS »BPS« verglichen, um sicherzustellen, dass der Helm die Dehnungsreduzierungskriterien erfüllt, die MIPS für alle zugelassenen Helme vorsieht. Auf den Prüfstand kommen daher sowohl standardisierte Helme mit als auch ohne MIPS-Zusatz. »Eines möchte ich an dieser Stelle allerdings deutlich machen: Kein Helm am Markt lässt sich generell als schlecht bezeichnen. Am wichtigsten ist, dass die Leute überhaupt einen Helm tragen«, ergänzte Marcus Seyffarth. »Sie alle schützen den Träger und wir wollen diesen Schutz stetig verbessern.«